Mit offenen Augen


Meine Oma ist heute 79 Jahre alt geworden: als sie so alt war wie ich jetzt, war der Krieg noch keine zehn Jahre vorbei.

Da sie nur einige Straßen weiter wohnt, haben meine Familie und ich den Nachmittag mit selbstgemachter, veganer Torte, Geschenken und Geschichten bei ihr verbracht. Diese paar Stunden haben mich zum Nachdenken gebracht.

Jetzt, wo meine Oma alleine lebt (weil ihr Mann – mein Opa – vor fast zwei Jahren verstorben ist) und auch keiner Beschäftigung mehr nachgeht, kommt sie immer mehr ins Grübeln und Revue passieren. Die Zeit, die sie jetzt erlebt, so viel ist ihr bewusst, ist der letzte Abschnitt ihres Lebens. Sie ist noch ziemlich fit für ihr Alter, aber sie merkt, wie ihr Körper immer schneller erschöpft ist und sie akzeptiert es.

Fast schon staunend scheint sie sich immer wieder wie eine Außenstehende selbst zu betrachten. Bemerkt Veränderungen, die mit und in ihr vorgehen und sieht auch, wie es gleichaltrigen Bekannten ganz ähnlich ergeht. Vor allem aber kommen in ihr immer wieder Erinnerungen hoch. Vor allem ihre Kindheit und Jugendzeit in ihrer Heimatstadt beschäftigen sie sehr viel. Es ist deutlich, dass sie abschließt. Heißt nicht, dass sie keine Lust mehr am Leben hat – im Gegenteil möchte ich meinen. Aber sie kommt immer mehr mit sich ins Reine.
Heute hat sie beschlossen, dass der Kuchen, den sie gebacken hat, der letzte Kuchen sein wird, den sie macht. Einfach weil sie im Alter diese Freiheit hat.

Mich beklemmt der Gedanke, mit seinem Leben abzuschließen. Gleichzeitig habe ich natürlich bisher viel weniger erlebt als meine Oma und ich glaube, dass ab einem gewissen Alter der Tod tatsächlich kein Übel mehr ist, sondern mehr ein Freund auf dessen Besuch man irgendwann vielleicht sogar erwartungsvoll blickt.
Wenn ich ihr so zuhöre, wenn sie von ihren vielen Erlebnissen erzählt, mit einem Blick, der weder mich noch das Zimmer um sie herum betrachtet, dann wird mir so richtig bewusst, wie kostbar Leben ist ... und wie wichtig es ist, mit offenen Augen und offenem Herzen durch eben dieses zu schreiten.

Tief einatmen, tief ausatmen. Meine Lungen arbeiten unermüdlich Tagein, Nachtaus für mich. All die verschiedenen Gerüche, die ich dank ihnen einsaugen kann. All die Schreie, die ich dank ihrer Kraft ausstoßen kann (könnte). All die Lacher, die mich dank ihnen durchs Leben begleiten.
Mein Körper ermöglicht mir die beste Grundlage für ein erfülltes und gelebtes Leben. Es ist an mir, was ich mit dieser Grundlage schaffe.

Bin ich in sechzig Jahren ebenso zur Ruhe gekommen, wie meine Oma jetzt? Werde ich auf ein Leben voller Hochs und Tiefs, vor allem aber auf ein bewusstes Leben zurückblicken können? Das entscheide ich jetzt. In der Gegenwart, die zugleich jetzt schon meine Vergangenheit darstellt und mich formt.


(Die Fotos sind entstanden auf einem eher unfreiwilligen nächtlichen Spaziergang, nachdem mir der letzte Bus quasi vor der Nase weggefahren war. Nachdem ich eine Weile entnervt und erschöpft mit ärgerlich zusammengezogenen Augenbrauen die Straßen entlanggestapft war, ist mir in einem Moment der Klarheit bewusst geworden, dass mich schlechte Laune auch nicht schneller nach Hause verfrachten würde. Ich habe angefangen, die Umgebung um mich herum wachsamer zu beobachten und plötzlich gefallen daran gefunden. Die warmleuchtenden Straßenlaternen, die mich so sehr an die in Paris erinnern. Die wenigen Menschen, die mir, in dicke Bekleidung eingemummelt, entgegenkamen. Meine Fußschritte, die tagsüber im Lärm der vorbeifahrenden Autos untergegangen wären. Der bewölkte Himmel, der sich über den beleuchteten Straßen und Fenstern erhob. Eine Atmosphäre, die mir komplett entgangen wäre, hätte ich mich weiter auf meinen Ärger konzentriert. Dann hätte ich sicherlich nur tunnelähnlich eine Straße wie jede andere vor mir gesehen, einen Weg, den es zu beschreiten hieß, um ans Ziel zu kommen. Dass das drumherum genauso schön sein kann, wie das Ziel, wäre mir nicht in den Sinn gekommen.)





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